Neuer Kunstverein Giessen, 2004

facades

February 28 - April 17, 2004
Neuer Kunstverein Giessen, Giessen, Germany

 

Dr. Gerd Steinmueller: Thomas Kellner - facades

 

Rede zur Eroeffnung der gleichnamigen Ausstellung

im Neuen Kunstverein Giessen, Ecke Licher Strasse/Nahrungsberg

am Samstag, dem 28. Februar 2004

 

Gestatten Sie zunaechst, dass ich Frau Debra Klomp begruesse, die den weiten Weg aus England nicht gescheut hat, um heute zur Eroeffnung zugegen zu sein. Debra Klomp ist Fotografin und Art Director von Pavilion in Leeds, einer Institution, die sich um transmediales, grenzueberschreitendes Zusammenwirken von Kuenstlerinnen und Kuenstlern bemueht. Dear Debra Klomp, welcome to Giessen !

 

Until now we could watch how Thomas turned monuments into funny little buildings. From now on - it seems - he is going to work in a very different scale and is going to turn funny little buildings into monuments.

 

Will man Thomas Kellners kuenstlerisches Konzept mit wenigen Worten beschreiben, so koennte man sagen, dass es ihm immer darum geht, eingefahrene Wahrnehmungsweisen mit sehr unterschiedlichen fotografischen Mitteln zu irritieren und zur Disposition zu stellen. Wie dieses Konzept im Zusammenhang mit “Max hat´s” funktionieren sollte, war mir vor knapp einem Jahr, als wir zum ersten Mal hier standen und darueber sprachen, noch absolut schleierhaft. Thomas Kellner, zu diesem Zeitpunkt gerade zum Inhaber der “Gastprofessur Kunst” am Institut fuer Kunstpaedagogik der Giessener Universitaet ernannt, eine Funktion, die er bis letzte Woche noch innehatte, sprach damals von digitalisierter Architektur, von Aufloesung und Zerlegung in Pixel, aehnlich wie im Fernsehen, wenn Personen bewusst unkenntlich gemacht werden sollen. Mir darauf einen Reim zu machen, fiel mir angesichts des damals noch recht desolaten Zustands dieses Ausstellungsortes nicht eben leicht. Nicht eben leicht aber auch deshalb, weil ich in Thomas Kellner bis dahin eher einen Vertreter der Low Tech-Fotografie vermutete, der auf allzu hohen technischen Aufwand bewusst verzichtete, um sich moeglichst viele Gestaltungsoptionen offen zu halten.

 

Kennen gelernt habe ich Thomas Kellner, der 1966 in Bonn geboren wurde, vor zwoelf Jahren an der Universitaet-Gesamthochschule Siegen. Er war dort Student der Faecher Kunst und Sozialwissenschaften fuer das Lehramt an Gymnasien, eigentlich aber bereits ein besessener Fotograf, der nahezu alles, worin sich Lichtempfindliches unterbringen liess, zu Lochkameras umfunktionierte, angefangen von kleineren Schachteln und Dosen bis hin zu Muelltonnen und LKWs. Erwiesen sich derartige Behaelter einmal als voellig inkompatibel mit seinen fotografischen Vorstellungen, so entwarf und baute er ganz einfach neue Apparate, solche mit mehreren Loechern beispielsweise, oder auch jene Kamera, mit der Thomas Kellner 6.000 km entlang der bundesdeutschen Grenze reiste, um jeden Grenzuebergang einzeln zu dokumentieren. Fuer dieses 1996 durchgefuehrte Projekt, genannt “Deutschland. Blick nach draussen”, das zugleich seine Staatsarbeit war, erhielt Thomas Kellner nicht nur eine exzellente Examensnote, sondern auch den Kodak-Nachwuchs-Foerderpreis. Im Katalog zu diesem Projekt bemerkte Hubertus von Amelunxen:

 

“So vermittelt sich Kellners Bestandsaufnahme deutscher Grenzen dem Betrachter in einer eigenartigen Stille, etwas melancholisch stimmt uns diese Freiheit. Die Bilder scheinen den Raum zu weiten und doch in diesem Zug uns den Boden unter den Fuessen zu nehmen.” (S. 16)

 

“Uns den Boden unter den Fuessen zu nehmen”, wie von Amelunxen sagte, sollte Thomas Kellners Arbeit schon bald in ganz anderer Weise bestimmen. Seit 1997, mit Beginn seiner Taetigkeit als freischaffender kuenstlerischer Fotograf, setzte er sich wiederum mit den Moeglichkeiten konventioneller, genauer: analoger handelsueblicher Fotoapparate auseinander. Es entstand das Projekt “Monumente”, in dem Thomas Kellner architektonische, vorzugsweise urbane Wahrzeichen wie den Eiffelturm, die Berliner Gedaechtniskirche, Big Ben, Tower Bridge, die Alhambra usw. in eine Fuelle von Einzelbilder zerlegt, um diese Fragmente dann in verblueffend neuer Weise wieder zusammenzusetzen.

 

Unvermutete Aktualitaet erhielt dieses dekonstruktiv-rekonstruktive Verfahren, das dem allzu oft Fotografierten, dem visuell Abgenutzten und damit auch dem allzu oft UEbersehenen eine voellig andere Praesenz verleiht, durch den Anschlag auf das Wahrzeichen von New York, die Twin Towers des World Trade Center, am 11. September 2001. Vor allem in den USA wurde Thomas Kellners fotografischen Arbeiten seitdem wachsende Aufmerksamkeit und Anerkennung zuteil. Einzelausstellungen erfolgten 2002 und 2003 in Boston, New York und Chicago. Ankaeufe seiner Arbeiten wurden inzwischen auch von renommierten oeffentlichen Sammlungen getaetigt, wie beispielsweise dem Museum of Fine Arts in Houston und dem Art Institute of Chicago. Zu Kellner's Architekturcollagen bemerkte Alan C. Artner in der Chicago Tribune: “Who would have thought that so much wonder could still be created with straight photographs in a time given to digital manipulation?”

 

Dass Thomas Kellner der digitalen Fotografie und damit auch der Moeglichkeit, Bilder grenzenlos manipulieren zu koennen, keinesfalls aengstlich und reserviert begegnet, sondern sich im Gegenteil dieses Medium aus einer intensiven kuenstlerischen Auseinandersetzung heraus anzueignen versteht, zeigt sein neuestes Projekt “facades”, das heute erstmals der OEffentlichkeit vorgestellt wird. Dieses Projekt entwickelte Thomas Kellner waehrend seiner Zeit als Gastprofessor an der Justus-Liebig-Universitaet in Giessen. Ausgangspunkt sind dabei - wie das ausliegende Projektbuch mit den Entwuerfen veranschaulicht - eine Reihe von Giessener Gebaeuden, z.T. in unmittelbarer Naehe, deren Fassaden jeweils mit einem reduzierten, stark aufgepixelten Abbild ihrer selbst verkleidet werden bzw. als verkleidet vorzustellen sind. In die Tat umgesetzt und im Massstab 1 : 1 ausgefuehrt, ergibt sich dabei ein sehr merkwuerdiger Effekt, den Sie sicherlich alle schon laengst bemerkt haben:

 

Aus der Distanz gesehen, scheint die Architektur noch weitgehend intakt und nur geringfuegig in sich verschoben zu sein. Naehert man sich dem Gebaeude, so erscheint seine Fassade jedoch zunehmend in Aufloesung begriffen. Architektur verwandelt sich jetzt ploetzlich in ein Bild, wobei das Bild mehr und mehr auf seine Grundbestandteile, auf einzelne Pixel, zurueckgefuehrt wird. Oder anders gesagt: Materielles erscheint entmaterialisiert. Paradoxerweise vermag dabei aber das an und fuer sich Immaterielle dennoch stoffliche Qualitaeten anzunehmen. Aufgrund ihrer Groesse und weil sie immer auch im Kontext unverhuellter architektonischer Bestandteile wahrgenommen werden, dem Dach oder in anderen Entwuerfen auch Balkonen, erscheinen die einzelnen Pixel gar nicht so sehr als Endprodukte eines Zerfallsprozesses, sondern eher als Ausgangsmaterialien, als Bausteine gewissermassen, aus denen sich eine virtuelle parallele Welt formiert, die der wirklichen, real existierenden Welt nunmehr gleichberechtigt gegenuebertritt und gleichsam in sie eingebaut erscheint.

 

Um dieses subtile Spiel mit der Wahrnehmung, das seit seinen fruehen Lochkamera-Projekten im Zentrum von Kellners kuenstlerischer Konzeption steht, ueberhaupt in Gang setzen zu koennen, um die Koexistenz von Architektur und Bild, von Realitaet und Virtualitaet in natura ueberhaupt aufzeigen zu koennen, mussten freilich einige wesentliche Grundvoraussetzungen erfuellt sein. Erstens mussten Genehmigungen eingeholt werden, um mit dem Domizil des Neuen Kunstvereins Giessen auf diese Weise verfahren zu koennen. Stellvertretend fuer alle, die das Projekt “facades” behoerdlicherseits befuerworteten, danke ich dem Leiter der Denkmalschutzbehoerde der Stadt Giessen, Herrn Joachim Wilhelm Rauch, fuer sein Interesse und seine Unterstuetzung. Zweitens musste ein Unternehmen gefunden werden, das in der Lage war, eine nur 22 Kilobyte grosse Datei auf eine Flaeche von ca. 80 Quadratmetern zu drucken. Das war die Firma Viabild in Koeln. Konfektioniert und installiert wurde das Ganze dann - drittens - von der Firma Winkelmann in Wiehl/Gummersbach. Herrn Winkelmann und seinem Team, das hier vorgestern mit bewundernswertem Engagement und Einsatz bei der Sache war, ganz herzlichen Dank fuer ihre professionelle Arbeit.

 

Mein allergroesster Dank im Namen des Neuen Kunstvereins Giessen gilt viertens und letztens natuerlich demjenigen, der das Projekt aus der Taufe hob und ganz allein finanzierte, naemlich Thomas Kellner. Lieber Thomas, ich glaube es ist Dir wirklich gelungen, “Max hat´s”, das heimliche Wahrzeichen Giessens, mit einem kraeftigen kuenstlerischen Ausrufzeichen zu versehen und zu einem spannenden Hingucker zu machen. Dafuer nochmals vielen Dank. Fuer die Fortentwicklung Deiner sozusagen in Giessen geborenen “facades” wuensche ich viel Erfolg. Ich bin mir sicher, dass der eine oder andere Deiner Entwuerfe woanders schon bald in noch groesserer Dimension realisiert werden wird. Vorerst noch in etwas kleinerer Dimension, naemlich exakt 20 x 30 cm gross, hat Thomas Kellner zu dieser Ausstellung uebrigens ein Blatt in 30er Auflage geschaffen, signiert und nummeriert erhaeltlich fuer 100 Euro.

 

Ganz zum Schluss noch ein paar Hinweise. Mit Thomas Kellner wird hier in der Ausstellung am Samstag, dem 13. Maerz um 14 Uhr ein Kuenstlergespaech stattfinden. Fotografische Arbeiten von Studierenden aus Seminaren, die Thomas Kellner im Rahmen seiner Gastprofessur an der JLU abhielt, sind demnaechst ebenfalls in Giessen zu sehen. Den Anfang macht Nikolina Guzvica mit “Lebensraeume - fotografische Einblicke” in der Kanzlei Greilich Hirschmann & Coll. am Mittwoch, dem 17. Maerz um 18 Uhr. Eine umfangreiche Gruppenausstellung in der Galerie Unterer Hardthof wird Mitte Mai folgen. An die Mitglieder des Neuen Giessener Kunstvereins abschliessend noch die herzliche Bitte, die eine oder andere Aufsicht zu uebernehmen und sich zu diesem Zweck in die ausliegende Liste einzutragen. Spannende Gespraeche im ehemaligen Kiosk warten auf Sie!

(Dr. Gerd Steinmueller, 2004)