Thomas Kellner - genius loci
22. April - 12. May 2019
Kunstverein Alte Feuerwache, Dresden
Alte Feuerwache Loschwitz e. Kunst- und Kulturverein
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„Kellners Technik ähnelt Cortázar’s gíglico, indem viele – wenn auch nicht alle – Elemente in seinen Kompositen semantisch undurchsichtig sind.” Fernando R. Castro, Thomas Kellner. Kontakte einer unendlichen Stadt, in: Thomas Kellner (Hrg.), Thomas Kellner. Mexiko, Lüdenscheid, Berlin 2011, 37-46
Thomas Kellner zeigt in der Ausstellung genius loci – Zwei Siegener im Zarenland Skizzen, Entwürfe und Collagen, die im Zuge seines Projektes zwischen Siegen und Jekaterinburg entstanden sind – zwei wichtige Wirtschaftsräume in Deutschland und Russland mit gemeinsamer Geschichte der Industriekultur.
Von 2012 bis 2014 begab Kellner sich auf die Spuren des gebürtigen Siegeners Georg Wilhelm Henning, klärte historische Begebenheit und setzte sich künstlerisch-fotografisch mit den Gemeinsamkeiten – der Verarbeitung von Stahl und Metall – auseinander. Es entstand eine Serie über die Industriearchitektur im Siegerland und im Ural, die bisher wenig bekannte Verbindungen zeigt und Interessantes über die Herkunft Hennings und die eigene Arbeit als Künstler erzählt.
Thomas Kellner lebt seit 1989 in Siegen, wo er seit 1997 als freischaffender Künstler tätig ist. Er ist bekannt für seine Bilder von scheinbar tanzender Architektur weltweiter Sehenswürdigkeiten, die aufgrund seiner künstlerischen Methode der „Visuellen Analytischen Synthese“ ganz einzigartig sind. Dabei wird nicht nur ein Bild aufgenommen, sondern viele geplante, um sie dann in Form von Kontaktbögen zu einem zusammenzuführen – ein Prozess der Konstruktion, während das fertige Werk eher der Dekonstruktion gleicht., 49-57 engl.
Eröffnungsrede
Genius loci – Zwei Siegener im Zarenland – so ist die international tourende Ausstellung des Fotokünstlers Thomas Kellner betitelt. Von der Vielzahl, der in Siegen und im Ural entstanden Arbeiten, zeigen wir Ihnen hier in der Feuerwache Loschwitz einen kleinen Ausschnitt. Im Fokus stand die Industriearchitektur. Thomas Kellner begab sich 2013 auf die Fußspuren von Georg Wilhelm Henning. Henning selbst wurde 1676 in Siegen geboren und im Alter von 22 Jahren als gelernter Eisengießer in den Dienst der Kaiserlich Russischen Armee genommen. Mit seinem Wissen auf dem Gebiet des Bergbaus wurde er zum geologischen Berater und war entscheidend an der industriellen Entwicklung in Sibirien zu Zeiten Peter des Großen beteiligt. 1723 gründete er sogar die Stadt Jekaterinburg rund um das dort eingerichtete Eisenwerk.
Auf seiner Reise durch Russland und das Siegener Land schlug Thomas Kellner einen historischen Bogen. Zum einen verfolgte er den Weg des Eisens vom heutigen Nordrhein-Westfalen in die Uralregion – zeigt Verbindungen der industriellen Produktion. Zum anderen setzt er in der Geschichte der Fotografie einen Kontrapunkt zur traditionellen Industriefotografie der Düsseldorfer Fotoschule unter Bernhard und Hilla Becher.
Thomas Kellners fotografische Arbeiten – seine Spurensuche – ist alles andere als klassisch. Wir sehen Fotografien von Architektur, können Monumente, Gebäude, Fabriken ausmachen, jedoch erscheint nichts, wie wir es gewohnt sind. Weder Zentralperspektive noch Statik und Haltbarkeit begegnen uns in den Werken, sondern Bewegung, Schwingung, Taumel. Erst bei einem zweiten Blick, wenn wir näher ans Werk herantreten, werden wir uns der einzelnen kleinen Bilder gewahr, die das große Ganze bilden. Ein schwarzes Raster spannt sich auf, zwischen den Zeilen können wir einzelne, sich wiederholende Ziffern finden oder den Begriff Kodak lesen.
Schnell wird klar, hier handelt es sich um einzelne Filmstreifen, jedes Foto ganz analog geschossen, auf einem 35 mm Kleinbildrollfilm mit 24 oder 36 Bildern. Mehrere Streifen bilden zusammengenommen den Kontaktbogen, der dann das fertige Bild zeigt.
Kellners Weg zu dieser bis heute einzigartigen Sprache begann während seiner Studienzeit. Neben der experimentellen Fotografie mit der Lochkamera stand auch die kunsthistorische Auseinandersetzung mit den Werken Robert Delaunays, mit Kubismus und Orphismus und der Gleichzeitigkeit mehrerer Perspektiven im Bild. Die Feststellung, dass sich die Malerei bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts schlussendlich von der Zentralperspektive befreite, die Fotografie aber keinen Ausweg zu finden schien, trieb Kellner zur Entwicklung seiner visuellen analytischen Synthese, die mit der Aufnahme des Eiffelturmes 1997 während eines Studienaufenthaltes ihren Ausgang fand. Zunächst waren nur Entwürfe und Skizzen in Form von Kontaktbögen geplant, heute bilden sie das Werk selbst.
Der Aufnahme geht ein aufwändiger Prozess voran. Zuallererst die Motivsuche, es folgt eine Skizze, ein Raster, in dem sowohl Bildausschnitt, Anzahl der Filme und Perspektivverschiebung minutiös eingezeichnet und geplant sind. Der spätere Rhythmus findet sich bereits in dieser Komposition.
Mithilfe seiner Einzelbilder beschreibt Thomas Kellner einen Sehprozess. Denn das Erfassen von Architektur passiert nie auf einen Blick. Wenn wir uns den Gebäuden nähern, verändern wir ihnen gegenüber unsere Position. Wir sehen immer nur Details, Ausschnitte des großen Ganzen, ein Fenster aus dem einen Winkel, den Giebel aus einem anderen. Unser Gehirn verbindet all diese Elemente zu einem Gesamtkonstrukt. Ein ganzheitliches Erfassen, wie es uns Postkartenmotive verkaufen, Bedarf eines gewissen Abstandes – und auch dann wandert der Blick von links nach rechts, von oben nach unten. Und genau auf diese Wanderung, den Weg durch den eigenen Seh- und Erkenntnisprozess, nimmt uns Thomas Kellner mit.
Er fotografiert von links nach rechts, folgt dem Filmlauf in der Kamera, beginnt meist unten im Bild. Wir können seinen Blick durch das Objektiv mit jedem Einzelbild nachvollziehen. Einem stabilen Fundament folgt bald die Bewegung. Die Kamera wandert nicht mehr nur auf einer horizontalen Linie vor dem Motiv, sondern beginnt, sich um wenige Grad nach hier und nach dort zu neigen – folgt einem Rhythmus. Es werden also nicht einzelne Bilder im Gesamtaufbau gedreht oder montiert, es ist der Blick des Betrachters vor der Architektur, der sich hebt und senkt, das Gebäude abtastet, mal den Vordergrund und mal den Hintergrund fokussiert. Ein Moment, in dem sich der Künstler von der Intuition leiten lässt und uns jegliches perspektivische Sehen versagt. Er zeigt uns Fragmente, die uns in ihrer Gesamtheit eine Alternative zu der uns bekannten Wirklichkeit zeichnen. Konstruktion und Dekonstruktion liegen eng beieinander.
Genius Loci war für Thomas Kellner eine ganz besondere Erfahrung. Denn in der konzeptionellen Arbeit mit so zahlreichen Motiven weltweit gab es immer wieder Möglichkeiten, dem Kontaktbogen neues abzuringen. Im Fokus des künstlerischen Prozesses stand die Untersuchung der Bewegung. Was geschieht mit dem Bild, wenn Bewegung aufhört oder stagniert, wieder einsetzt. Was passiert mit Elementen, die sich einer Bewegung bewusst verweigern. Oder wie verhält sich das Raster des Kontaktbogens, wird es bewusster wahrgenommen oder bekommt es über seine strukturierende Funktion hinaus eine Bedeutung? – Mit all diesen Fragen im Hinterkopf bekommt die Betrachtung der fotografischen Arbeiten Thomas Kellners eine neue Dimension, die auffordert: Verändern Sie Ihre Perspektive, entdecken Sie Fragmente, genießen Sie den Rhythmus.
Maren Marlziger M.A.
Danke an den Kunstverein Alte Feuerwache, Maren Marlziger und Detlef Schweiger für die wunderbare Ausstellung